Die Geschichte der Viktoriastraße


Die Viktoriastraße


Meine Geschichte der Viktoriastraße

Auszug aus dem Buch »Geschichte(n) aus der Viktoriastraße«
Herausgeber: AG Viktoriastraße, Quartier e.V. und Otto Brenner Akademie

Davon ein Teil zu sein, ist ein schöner Gedanke.
Anwohnerin der Viktoriastraße zu sein, sie mitzugestalten, indem ich z.B mein Haus Nr. 15 ausbaute, den Garten anlegte und ihn pflege, geduldig die Müllfetzen aufsammle und den Hundehaufen vor dem Zaun entferne, tue ich Kund, dass ich hier bin, aktiv. So wie die vielen Anwohner, die einstmals hier lebten und Geschichte und Geschichten zurücklie.en. Schöne, traurige, erschütternde, ganz normale Geschichten von Gelebtem, das die Zeit an uns vorüberziehen lässt. Ich freue mich, mit euch einzutauchen, in die Stücke von Geschichte, die wir zusammengetragen haben, Spuren zu finden auf alten Fotos, die mein Haus im Hintergrund zeigen, wo längst verschwundene Anwohner abgebildet sind, mit Kindern auf dem Zaun, die nun als Erwachsene an meinem Tisch sitzen und die Fotos herumzeigen. Herr Fahlbusch, der höflich und elegant eine Flasche Wein hervorzaubert, nachdem er freundlich an meine Tür geklopft hat. Im Gepäck das Fotoalbum, in dem seine Familien- Geschichte mit der Herstllung von Sauerkraut dokumentiert ist. Ja, ja, unsere verkehrsberuhigte Viktoriastraße war einstmals laut, viel bevölkert und mit etlichen Gewerben bestückt, die dem Bedarf entsprachen, den eine in der Industrie tätige Bevölkerung hatte. Nicht nur eine Sauerkrautfabrik gab es hier, gleich mehrere und mein Gründstück war Lager für Kohlköpfe. Daraus erklärt sich vielleicht die besondere Lage meines Hauses, das als einziges aus der Reihe springt und zwar nach hinten, um vorne Platz zu bieten, Waren zu liefern und zu lagern, Karren umzuspannen und später Autos aufzunehmen, die ihre Fuhren abluden. Als ich das Haus übernahm, war vorne ein Garagenhof und hinten auch. Alles fein säuberlich betoniert und kein einziges Pflänzchen Unkraut wagte sich hervor. Neben allen Planungen, dann Tapeten abreißen, Wände einreißen, Schutt raustragen, Handwerker finden, hatte ich immer Spaß daran, die Ranken des Nachbargartens durch meinen Zaun zu fädeln und ein wenig Grün auf mein Grundstück zu locken. Schon damals hatte ich Hühner, die mir bedeuteten, dass ich nun selbst bestimmen konnte, wer hier sein zu Hause findet. Vor allem ist dieses Haus mein zu Hause geworden, ich habe es meinen Bedürfnissen angepasst und- es hat alles geduldig mitgemacht und mir Raum gegeben. Zeit genommen habe ich mir, alles nach und nach herzurichten, wie es Berufstätigkeit und Geldbeutel erlaubten. Fertigkeiten habe ich mir angeeignet, gemauert, gefliest, gegraben und getüncht. Entdeckt habe ich Spuren von Farbe aus langer Vergangenheit, Lehmgefache und Kohle in den Zwischenräumen der Decke. Dünne, krumme Balken sind die Stützen meines Hauses und der einstige Kriechboden formt sein Dach nun über meinem Atelier. Und dieses unglaubliche Fliesenmosaik, das den Flur einstmals schmückte – praktisch, abwaschbar aus den 50er und 60er Jahren zusammengewürfelt. Damals waren Panoramafenster eingebaut worden, die zwar Helligkeit ins Haus brachten, aber seinen Stil verleugneten. Forschen auf alten Bauzeichnungen, wie die Fenster einmal waren, spicken, wie das Problem in der Nachbarschaft gelöst worden ist. Holz, na klar, die alte Fensterform, na klar, sogar mit nach außen öffnenden Fensterflügeln. Hat schon mal jemand Rohre gesehen, die wie verkalkte Arterien aussehen? >Foto< Außen rotbrauner Rost, innen von Gelb nach weiß abgestufte Kalkringe, die den Durchmesser des Rohres auf wenige Zentimeter verringern. Ein Jahrundert ist hindurchgeflossen und hat Spuren hinterlassen! Fundstücke: Ein winziges Porzellanpüppchen mit Rouge auf den Wangen oder Spangen eines Wagenverschlages mit Messingverzierung, ein Parfumfläschchen wer hat es verloren, der Schnappverschluss einer Flasche von Oehlerking. Welche Flüssigkeit enthielt die Flasche – Sauerkrautsaft, Brause, Bier? >Foto< Welche Geschichten sich in einem so alten Haus verbergen, ist kaum nachzuvollziehen. Für mich war entscheidend, dass ich mich auf Anhieb wohlfühlen konnte, in den Räumen. Sie strahlten ruhige Gelassenheit aus. Sonst hätte ich mich nicht auf 10 Jahre Schufterei einstellen mögen. Ich denke, dass die Nachbarn ebenso in den ersten Momenten, als sie das künftige Haus „adoptierten“ gespürt haben, dass es sich lohnen würde, genau hier ein zu Hause einzurichten, auch wenn die äußere Hülle noch reichlich unansehnlich und in jeder Hinsicht zuwendungsbedürftig war.